Der rororo-Band Kinderplanet oder Das Elend der Kinder in der Grosstadt (1972), der Autorinnengruppe Karin Günther-Thoma, Regina Henze und Linette Schönegge dokumentiert eine aufsehenderregende Grossspielaktion in der Messe Frankfurt im Sommer 1971.
Der 1971 in der Messe Frankfurt durchgeführte „Kinderplanet“ entsprang einer genuinen und erfolgreichen Verbindung von Theorie und Aktion. Ende der 1960er Jahre suchten StudentenInnen der Schule für Gestaltung Offenbach nach Alternativen jenseits einer auf Massenkonsum getrimmten Gesellschaft. Sie interessierten sich für Möglichkeiten eines sozialen und solidarischen Verhaltens anstelle von „Individualkonkurrenz“. An Hand eines Projekts aus den Bereichen Leben, Wohnen und Arbeiten wollten sie solches Verhalten konkret testen.
Die Arbeitsgruppe 1 bestehend aus Karin Günther-Thoma, Regina Henze, Linette Schönegge, Gert Engel, Gerhard Mülinghaus, und drei kooperationsbereiten Dozenten der Hochschule Thomas Bayerle, Bert Evers und Wolfgang Schmidt, wählte als ersten Problemkreis die ausserfamiliäre Betreuung der Kinder. Während drei Semester analysierte die Gruppe die Situation der Kinder in einer Grossstadt wie Frankfurt und diagnostizierte „Kinderfeindlichkeit der modernen Industriegesellschaft„: Kinder waren Opfer überforderter Eltern, Hauptopfer des Verkehrs und einer verfehlten Wohnraum- und Stadtplanung. Das Ziel war es, ein neues Modell einer Kinderbetreungsstätte zu entwickeln.
1970 forderte der Frankfurts Oberbürgermeister Walter Möller, während der Sommerferien eine Spielhalle für Kinder in der Frankfurter Messe einzurichten. Inspiration war das Dortmunder Kinderparadies/ Kinderferienparty in der Westfalenhalle im Sommer 1970. Augenblicklich entschied sich die AG1, Theorie durch Aktion zu ersetzen. Sogleich bot sie der Stadt an, ein Konzept zu erarbeiten und in die Tat umzusetzen. Der Vorschlag hatte Erfolg und das Schulamt übernahm die Federführung sowie die Finanzierung und steuerte damalige DM 150’000.- bei.
Bezeichnend für das basisnahe Vorgehen von AG1 war die Titelgebung: Ende Mai 1971 wurden mittels 70000, in Schulen und Kitas verteilten Handzettel Kinder und Schüler zwischen 5 und 15 Jahren aufgefordert, einen Namen vorzuschlagen. „Kinderplanet“ der 8-jährigen Irina Bornheim wurde ausgewählt – der Name war das perfekte Sinnbild für zahlreichen Vorstellungen und Forderungen der Kinder.
Für den Kinderplanet stand in der Messe die riesige Fläche von 18’000m² zur Verfügung, gegliedert in 3 Bereiche: Halle 3 (sportlich-rekreative Workshops), Freigelände (technisch-praktische Workshops) und Festhalle (musisch-kreative Workshops). Die Festhalle war wiederum durch Stellwände in sieben weitere Workshops eingeteilt: Theater, Basteln/Bauen, Musik, Malen, Siebdruck, Kostüm/Nähen und Foto. Als besondere Attraktion stand draussen ein alter Hubschrauberrumpf aus amerikanischen Armeebeständen.
Am 19. Juli 1971 um 10 Uhr eröffnete der Kinderplanet mit 4000 Kindern. Innert Kürze glich der Planet einem Schlachtfeld, Kinder lärmten durch die Hallen, schlugen alles kurz und klein. Kinder und Erwachsene rafften zusammen, was sie konnten, Trauben von Kindern liessen die Autowracks aneinanderkrachen, der Hubschrauberrumpf wurde zertrümmert und aus der Verankerung gestossen. Dazwischen standen die geladenen Gäste aus Politik und Wirtschaft, Aufnahmeteams von Rundfunk und Fernsehen. Die Betreuer blieben ruhig und versuchten nicht, die Aggression der Kinder zu bremsen.
Gegen Mittag hatten sich die Kinder ausgetobt, langsam gingen sie zu produktiveren Tätigkeiten über, erste Gruppen bildeten sich, probten Theaterstücke und führten sie auf. Der zweite Tag mit 6000 Kindern verlief vergleichsweise ruhig. Über drei Wochen besuchten insgesamt 45 000 Personen den Kinderplaneten. Zu Beginn stiessen der Kinderplanet und sein pädagogisches Konzept auf heftige Kritik. Dreck und Unordnung, gemalte Parolen und Symbole auf den Trennwänden, aber auch rote Fahnen, bestärkten die Vorurteile, dass die Kinder dort politisch indoktriniert würden.
Das Schulamt der Stadt Frankfurt befürchtete einen Imageschaden und versuchte missliebige Aktionen und den Materialnachschub zu unterbinden. Die Kritik von aussen kittete Kinder, Betreuer und die AG1 jedoch zusammen. Zunehmend berichtete auch die Presse positiv. Trotzdem wurde die ursprüngliche Idee, den Kinderplanet dezentrale in verschiedenen Stadtteilen einzuführen, von der Stadt aufgegeben. Insofern war der Kinderplanet gleichzeitig Erfolg und Scheitern.
Das Projekt fand jedoch in Elterninitiativen und einer Publikationen einen wichtigen Nachhall. Drei Mitglieder der AG1 veröffentlichten 1972 Kinderplanet oder Das Elend der Kinder in der Grosstadt. Die Publikation verband die theoretische Analyse der Situation der Kinder und der konkreten Erfahrung des Projektes „Kinderplanet“. Elterninitiativen nahmen die Ideen der AG1 auf und führten sie in kleineren Projekten weiter. Sie erkannten, dass Erziehung nicht rein privat, sondern immer auch politisch ist.
©Gabriela Burkhalter
posted 14. März 2022