Freiluftschulen/ Open-air schools in Europa
In Deutschland war der Schulbaudiskurs zwischen 1900 und 1930 von drei Themen geprägt: die an hygienischen Maximen orientierte gesunde Schule, die künstlerisch gestaltete schöne Schule und die mit der pädagogischen, aber auch der technischen Entwicklung Schritt haltende neuzeitliche Schule (Kemnitz 251). Verschiedene Strömungen dominierten den Diskurs: Reformpädagogik, das Neue Bauen und die Freilufterziehung.
Anfangs überwog noch der Stolz, möglichst grosse Schulhäuser zu bauen, was bis nach dem 1. Weltkrieg die Regel bleibt. Reformpädagogische Forderungen nach Licht, Luft und Sonne können sich erst danach durchsetzen. Die Architektur-Avantgarde fordert Sachlichkeit und lehnt die verniedlichenden Schmuck ab. Die neue Schule sollte durch Schlichtheit auch geschmackbildend sein. Die Schulen als „Bauten der Gemeinschaft“ sollten „sowohl der geistigen wie körperlichen Erziehung der Massen dienen als auch die Individualität des einzelnen Schülers zur Entfaltung bringen“ (Kemnitz 256).
Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten Freiluftschulen in Europa. Sie waren am Anfang vor allem für Tuberkulose-gefährdete Kinder gedacht. Tuberkulose wurde mit den unhygienischen Verhältnissen in den überbelegten, dunklen und engen Wohnungen in den schnell wachsenden Industriestädten in Verbindung gebracht. Bis 1944 gab es keine Medikamente gegen die Krankheit und die einzige Therapie war die „Freiluft-Behandlung“. Ausgehend von den Anforderungen an eine luft- und lichtdurchflutete Architektur begannen Architekten über eine „hygienische Architektur“ nachzudenken, welche zuerst besonders in der Schularchitektur der Freiluftschulen sichtbar wurde. Am Rand der traditionellen Schularchitektur entstand ein Freiraum zum Austesten neuer architektonischer Lösungen für Schulbauten.
1904 eröffnete die erste „Waldschule“ in Berlin-Charlottenburg, inmitten eines Waldes. Architekt Walter Spitendorff verfolgte drei Ziele: die Einsehbarkeit des Geländes erhalten, um die Kontrolle zu erleichtern, die natürliche unregelmässige Geländeformen und hohen Bäume erhalten, eine maximale Sonneneinstrahlung ermöglichen.
Die Schule nahm geschwächte, chronisch kranke Kinder auf – Mädchen und Knaben wurden gemeinsam unterrichtet, was sonst nicht üblich war – und sie wurden ärztlich überwacht. Die Koedukation und das Lernen mit echtem Anschauungsmaterial unterschieden die Waldschule von der klassischen Schule. Die Gestaltung des Lernumfelds – entfernt von der Stadt, saubere Luft, ruhig, sonnenexponiert, viel Umschwung, weicher Waldboden – waren aussergewöhnlich.
Die Waldschule bildete bald einen Anziehungspunkt für all diejenigen, welche sich für Reformen auf dem Gebiet des Unterrichts- und Erziehungswesen interessierten. (Kraft 10) Kraft kritisierte, dass bis anhin der körperlichen Entwicklung des Kindes nicht genug Aufmerksamkeit beigemessen wurde: „Im allgemeinen muss die Heranbildung starker Charaktere in der Fähigkeit körperlicher Anlagen eine natürliche Grundlage haben. Die ausdrückliche Hervorhebung der Nützlichkeit und Notwendigkeit körperlicher Übungen und ganz besonders der Spiele ist eine wohlbegründete Reaktion gegen die heutige Sitzschule, welche auf das innere Leben des Kindes keine Rücksicht nimmt..“ (Kraft 4).
Die preussische Regierung forderte in einem Zirkular die Verbreitung des neuen Schulmodells in den Gemeinden, diverse Kongresse zur Schulhygiene machten die Idee in Deutschland, Europa und den USA bekannt, und führten zu deren Verbreitung. Während es in Europa staatlich geförderte Schulen waren (nach dem Ersten Weltkrieg besonders auch von sozialdemokratischen Regierungen gefördert), realisierten in den USA private Vereine im Kampf gegen die Tuberkulose solche Schulen. Ab 1922 entstand eine internationale Bewegung, die sich an Kongressen traf, der erste fand 1922 in der medizinischen Fakultät in Paris statt.
Mit der Entdeckung des Pencillins 1943 war eine wirksame Waffe gegen Tuberkulose gefunden und die Freiluftschulen verloren ihre „raison d’être“. 1953 fand der letzte Kongress in Zürich statt.
1927 entwarf Bruno Taut die Schule am Dammweg, Berlin, die die Forderungen nach einem rationellen Schulbetrieb räumlich umsetzte: der Bau sollte 1. „Gewand“ für ein einheitliche Schule sein, 2. „kooperative, sachliche Arbeit“ befördern und 3. „Lebensraum der Schüler und aller zur Schule gehörigen Personen sein, und das ohne künstliche Abtrennung von der Umwelt“ (Zitat von Fritz Karsen in Kemnitz 259). Die räumliche Organisation, Offenheit und Transparenz förderte das Wohlbefinden des Kindes.
1932 erschien in Zürich „Das Kind und sein Schulhaus“. Ein Beitrag zur Reform des Schulhausbaues von Dr. med. W. von Gonzenbach (Professor für Hygiene und Bakteriologie an der ETH Zürich), Architekt Werner M. Moser und Pädagoge Willi Schohaus. Im Zürcher Kunstgewerbemuseum fand die Wanderausstellung „Der neue Schulbau statt“, die einen nachhaltigen Eindruck hinterliess.
Die Publikation und die Ausstellung prangerten die monumentale und repräsentative Schulhausarchitektur an. Die Schweiz war gegenüber anderen Ländern wie Deutschland, den Niederlanden ins Hintertreffen geraten.
„Grundsätzlich müssen wir uns zur Freiluftschule im weitesten Sinne des Wortes bekennen, d.h. einer Schule mit möglichst viel Aufenthalt und Tummeln im Freien …“ (Gonzenbach 9) „Das nach dem Prinzip der Freiluftschule im weiteren Sinne des Wortes erstellte Schulhaus verlangt grössere Freiflächen, 1. eine grosse Spielwiese, 2. einen Schulgarten und 3. einen Pausentummelplatz.“ (id. 10) „Andererseits ist es ein alter und einleuchtender Satz der Hygiene, dass die Anlage von Werten in der Gesundheit unseres Nachwuchses die beste Kapitalanlage einer menschlichen Gesellschaft ist und an diesem wertvollsten Gut am wenigsten gespart werden darf.“ (id. 17)
Die „Entdeckung“ der Freilufterziehung war auch für die Entwicklung neuer Spielplatzkonzepte bedeutungsvoll, denn Spielplätze waren ein Teil der Freilufterziehung und der Bestrebungen einer verbesserten Hygiene und Volksgesundheit. Es sollten gesunde und kräftige Bürger, leistungsfähige Arbeitskräfte für eine starke Gesellschaft und Wirtschaft heranwachsen.
Quellen:
– Anne-Marie Châtelet: „A Breath of Fresh Air: Open-Air Schools in Europe“, in: Designing modern childhoods : history, space, and the material culture of children / edited by Marta Gutman, Ning de Coninck-Smith. – New Brunswick, N.J. : Rutgers University Press, 2008. (The Rutgers series in childhood studies)
– Das Kind und sein Schulhaus : Ein Beitrag zur Reform des Schulhausbaues / von W. von Gonzenbach, Werner M. Moser, Willi Schohaus. – Zürich : Schweizer Spiegel, 1933. (Schriften zur Erneuerung der Erziehung)
– Kraft, Adolf. – Waldschulen / A. Kraft. – Zürich : Orell Füssli, 1908
– Der neue Schulbau : Ausstellung. – Zürich : Kunstgewerbemuseum, 1932
– Heidemarie Kemnitz: „Denkmuster und Formensprache pädagogischer Architekturen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Das Jahrhundert der Schulreformen : Internationale und nationale Perspektiven, 1900-1950 / hrsg. von Claudia Crotti .. [et al.]. – Bern : Haupt, 2008
Bilder aus: Werner M. Moser: Zusammenstellung der Photos, die für die Ausstellung über den neuen Schulbau vorgezeigt werden. Aug.-Sept. 1932. (Auswahl)
posted: 1. Januar 2015, update: 19. Februar 2015