Wohnste sozial …

Beck, Johannes. Wohnste sozial, haste die Qual : mühsamer Weg zur Solidarisierung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975

Helga Reidemeister: „1968 organisierten wir – eine Gruppe oppositioneller Studenten/ Assistenten – an der TU Berlin eine Protestausstellung, „Diagnose zum Bauen in West-Berlin“, gegen die offiziellen Berliner Fest-Bauwochen.

Ich wollte Aussagen über die „neue Architektursituation“ dokumentieren und ging im MV (Märkischen Viertel, Grossbausiedlung in Berlin-Reinickendorf für 50’000 Personen, 1963-1974 gebaut) im Langen Jammer tagelang mit dem Tonband von Tür zu Tür. Ich war ahnungslos über Druck der existentiellen Not dort: untragbare Mieten, mühsamer Kleinkampf mit den Behörden, Soziale Kontrolle durch gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften und Familienfürsorge, gegenseitige Diskriminierung, offene und verdeckte Aggressionen der Bewohner untereinander.“ (Wohnste Sozial, S. 20)

Im Frühjahr 1969 entstand in der Folge der „Diagnose-Ausstellung“ die MV-Studie der PH Berlin, Fachbereich Sozialpädagogik. Seit 1965 war C. Wolfgang Müller (geb. 1928) Professor für Erziehungswissenschaft an der Pädagogische Hochschule in Berlin, wo er den Fachbereich der Sozialpädagogik begründete.

An der MV-Studie der PH, die sich über fünf Jahre erstreckte, nahmen etwa 100 Studenten und Dozenten teil. Das Ziel der Studie, konzipiert von C. Wolfgang Müller, war ein „dialogisches Verhältnis zwischen Forschenden und Bevölkerung zu entwickeln“, wobei Betroffene nicht als Forschungsmaterial benutzt werden sollten. Konflikte waren wegen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit und Interessen jedoch vorprogrammierte (Wohnste Sozial, S. 78)

Mit dem Beginn des Forschungsprojekts 1969 begaben sich zahlreiche StudentInnen, die mehrheitlich in der Innenstadt wohnten, ins MV und arbeiteten dort gemeinsam mit BewohnerInnen in verschiedenen Arbeitskreisen mit: Mieten und Wohnen, Märkische-Viertel-Zeitung, Sonntagskreis, Eltern-Kind-Gruppe, Stadtteilzelle. Unterschiedliche Interessen und Ressourcen (Zeit, Geld, Wissen) führten zu Konflikten, es gab jedoch auch Momente der Solidarität und Zusammenarbeit.

So entstand 1967 im MV der erste ASP (Abenteuerspielplatz) Deutschlands, von der Eltern-Kind-Gruppe initiiert und unterstützt vom Ilse Reichel, Bezirksstadträtin für Jugend und Sport in Reinickendorf.

Oder „Forderungen zur Solidarisierung“ wurden Ernst genommen (Gespräch zwischen Horst Lange, Irene Rakowitz, Claus Rath, Helga Reidemeister, 1974):

Irene: „Zum Beispiel Helga, du lernst jetzt an der Akademie mit Film. Du solltest jetzt dafür sorgen, dass wir das auch lernen. Da wir ja sowieso nicht drankommen, sondern du, dann müsstest du eine Weise finden, dass wir das auch lernen., dass diese Sache nicht nur in den Händen von ein paar Spezialisten bleibt. Denn das ist auch wieder so ein Privileg.“ (Denkste sozial, S. 132)

Tatsächlich wurden die BewohnerInnen des MV zu den Subjekten Reidemeisters Filme: Sie bekamen „wandernde Kameras“ in die Hand gedrückt, die untereinander weitergegeben werden sollten, und dokumentierten ihr Leben, ihre Alltagspolitiken selbst. Es ging darum, die eigene Subjektivierung zu politisieren, und um die Feststellung, dass nur aus dieser Perspektive politische Handlungsfähigkeit entstehen könne. In Von wegen Schicksal (1979) etwa dokumentiert die Arbeiterfrau Irene Rakowitz, die sich nicht mehr mit ihrer langjährigen Rolle als Ehefrau und Mutter abfinden wollte, auf intensive Weise ihren oft schmerzhaften Emanzipationsprozess. (Katja Reichard)

Quellen:

Katja Reichard: Uffdecken der janz kleenen persönlichen Scheisse.
Operative Medienpraxis, Projektarbeit und kollektive Organisierung im Märkischen Viertel der 70er Jahre
, 2008 eipcp.net

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